17 Jahre nach der Einheit steht Deutschland vor einer neuen Spaltung.
Einer Studie zufolge, die der "Welt am Sonntag" exklusiv vorliegt,
verläuft der Riss nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen
Norden und Süden - und quer durch den Osten. Die Politik streitet über die
Folgen
Deutschland droht eine neue Teilung. Doch diesmal verläuft die
Trennlinie nicht mehr zwischen Ost und West. Es tut sich vielmehr ein
neues Nord-Süd-Gefälle auf, das sich besonders deutlich bei den neuen
Bundesländern zeigt. Zu diesem Ergebnis kommt eine noch
unveröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung, die der "Welt am
Sonntag" exklusiv vorliegt. Für sie haben die Autoren alle 16
Bundesländer über einen Zeitraum von drei Jahren auf ihre
Standortqualitäten geprüft und mit früheren Studien verglichen.
Untersucht wurde, wie die Bundesländer wirtschaftlich abschneiden und
wie viel Sicherheit sie ihren Bürgern bieten.
Das Resultat: Am besten schneiden erwartungsgemäß Bayern und
Baden-Württemberg ab. Doch bei den anderen Bundesländern gibt es einige
Überraschungen. Während im Osten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
zu den Westländern aufschließen und sie teilweise sogar überholen,
fallen Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg immer weiter
zurück. Auch Schleswig-Holstein, in einer Studie aus dem Jahr 2005 noch
Spitzenreiter beim Wirtschaftswachstum, schwächelt deutlich, während
sich das kleinste Flächenland Deutschlands - das Saarland - zum neuen
Shootingstar entwickelt hat. Am katastrophalsten ist der Studie zufolge
- einmal mehr - die Lage in Berlin.
Neue Verteilungskämpfe könnten die Folge sein. Nicht mehr zwischen Ost
und West, sondern zwischen Nord und Süd. Oder gar Ost gegen Ost? Die
anhaltende Debatte um Solidaritätszuschlag und Länderfinanzausgleich, um
Solidarpakt und Rentenkürzungen für den Osten bekommt neue Nahrung.
An drei "Zielgrößen" machen die Autoren der Studie unter Leitung des
Würzburger Wirtschaftsprofessors Norbert Berthold die Attraktivität der
einzelnen Bundesländer als Standort fest: am Einkommen, der
Beschäftigung und der Sicherheit. Sie verglichen dafür sowohl aktuelle
Zahlen wie das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner und die
Arbeitslosenquote als auch die Anstrengungen der einzelnen
Länderregierungen, um die Situation zu verbessern. Die Ergebnisse wurden
auf einer Punkteskala zwischen null (sehr schlecht) und zehn (sehr gut)
eingeordnet. Um festzustellen, wie viel soziale Sicherheit die Einwohner
der jeweiligen Bundesländer haben, wurde die Zahl der Transferempfänger
geprüft. Die innere Sicherheit machten die Autoren der Studie an der
Zahl der nicht aufgeklärten Straftaten fest.
Am sichersten leben laut Studie die Menschen in Bayern. Auf 100
Einwohner kommen dort 1,91 nicht aufgeklärte Straftaten. Am wenigsten
sicher können sich die Bremer fühlen. Dort bleibt jede zwölfte Straftat
ungesühnt. Auch bei der sozialen Sicherheit liegt Bayern vorn: Von 1000
Einwohnern beziehen durchschnittlich nur rund 40 ALG II oder sonstige
Transferleistungen. Den Negativrekord hält Berlin. Hier bezieht jeder
siebte Einwohner Transferleistungen.
Thüringen belegt im Sicherheitsvergleich nach Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz den vierten Platz. Zwar liegt es bei der Zahl der
Transferempfänger im Mittelfeld, hat dafür aber bei den Straftaten die
dritthöchste Aufklärungsquote bundesweit. Nur in Bayern und
Baden-Württemberg haben Verbrecher noch weniger Aussicht, ungestraft
davonzukommen. Ausdrücklich loben die Autoren der Bertelsmann-Studie
auch die Sparpolitik Thüringens. "Behält die Landesregierung ihren Kurs
bei", schreiben die Autoren, "so wird sich der wirtschaftliche
Aufholprozess fortsetzen, und es ist zu erwarten, dass die Denkfabrik
Thüringen ihren Siegeszug auf den Weltmärkten fortsetzen wird."
Auch im Fall von Sachsen heben die Autoren die "solide Haushaltspolitik"
positiv hervor. Mit einem Wirtschaftswachstum von 1,90 Prozent zählt das
Land zu den Spitzenreitern; der Bundesdurchschnitt liegt bei 1,57
Prozent. Das größte Wachstum verzeichnet aber das kleinste unter den
deutschen Flächenländern, das Saarland: Mit 2,47 Prozent hat es
Baden-Württemberg (1,97) und Bayern (1,93) deutlich hinter sich
gelassen. Schleswig-Holstein, das laut früheren Studien beim
Wirtschaftswachstum ganz vorn lag, fiel diesmal mit 1,23 Prozent auf
Platz 12 zurück. Sachsen befindet sich in diesem Ranking auf dem vierten
Platz.
Auch was die Aktivitäten der sächsischen Landesregierung für mehr
Beschäftigung, Einkommen und Sicherheit betrifft, befindet sich Sachsen
laut Studie als einziges unter den Ost-Ländern überall im Mittelfeld.
Für die Autoren der Bertelsmann-Studie Anlass zur Annahme, der Freistaat
könne zum "Vorbild" für die anderen neuen Bundesländer werden und
"vielleicht schon bald auch das ein oder andere westdeutsche Bundesland
hinter sich lassen".
Steilvorlage für Georg Milbradt (CDU). Doch der sächsische
Ministerpräsident ordnet erst mal ein. "Der Süden der DDR hatte
historisch bessere Startbedingungen, um an den Westen anzuschließen",
sagt er. Auch "im Speckgürtel um Berlin" sieht er Potenzial. Dafür
brauche es aber "Kontinuität in der Politik". In Sachsen ist die CDU
seit der Wende stärkste Partei und hat stets den Ministerpräsidenten
gestellt. Die Chance des Ostens sieht Milbradt dort, "wo noch nicht
alles verteilt ist - in der Biotechnik, der Halbleiterindustrie oder zum
Beispiel der Fotovoltaik".
Die Ergebnisse der Studie werfen Fragen auf. Neue Verteilungskämpfe
könnten die Folge sein. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber fordert
vehement die Abschaffung des Soli, also des Zuschlages auf die
Einkommensteuer, mit dem die Kosten der Einheit finanziert werden
sollten. Milbradt sieht dafür noch keinen Anlass. "Wenn die Mittel für
den Solidarpakt bis 2019 auslaufen, entsteht womöglich finanzieller
Spielraum für den Bund, den Solidarzuschlag abzuschaffen", sagt er. Und
verteidigt den Solidarpakt, von dem auch das recht wohlhabende Sachsen
profitiert. "Im Vergleich mit dem Westen sind alle Ostländer nach wie
vor 'Schlusslichter', insofern richtet sich der Solidarpakt an die
Bedürftigen, und daran sollte man bis 2019 nichts ändern."
Berlin ist hingegen, glaubt man der Studie, das verzogene Schmuddelkind.
"Dem subventionsverwöhnten Berlin fällt es schwer, sich auf die
Situation ohne neue bundesstaatliche Unterstützung einzustellen",
urteilen die Autoren harsch, die vor allem die Berliner Landespolitik
für die Entwicklung verantwortlich machen. Was haben sie in Berlin nicht
schon alles gehört: "Hartz-IV-Hauptstadt", "arm, aber sexy" - gegen
diese Parolen regt sich Widerstand. "Zweifel" an den Ergebnissen der
Studie hat etwa Eric Schweitzer, Präsident der Industrie- und
Handelskammer (IHK) in Berlin. Zwar seien die "altbekannten" Probleme
richtig benannt: die hohe Verschuldung etwa oder die große Zahl der
Transfer-Empfänger. "Auf der anderen Seite werden aber die erfolgreichen
Bemühungen des Senats zur Sanierung des Landeshaushalts nicht genügend
gewürdigt", so Schweitzer.
Seiner Ansicht nach unterschlägt die Studie die steigende Zahl
sozialversicherungspflichtiger Jobs und die bundesweit höchsten
Investitionen in Entwicklung und Forschung. Auch der Touristenboom
zeige, so Schweitzer: "Berlin besitzt mehr Anziehungskraft als jede
andere deutsche Stadt."