Nobelpreis für Goebbels
Zum 150. Geburtstag Knut Hamsuns steht die norwegische
Kulturindustrie vor einem Problem: Wie gedenkt man eines Autors, der
bloß besser schreiben konnte als Ernst Jünger, politisch dem
Nationalsozialismus stärker anhing als Gottfried Benn und retrospektiv
so selbstgerecht war wie Albert Speer und Leni Riefenstahl zusammen?
Norwegische Literatur für deutsche Leser geht so: Ibsen ist Goethe,
und Knut Hamsun ist Thomas Mann. Daran ist mehr als einiges schief, aber
um die Bedeutung der beiden auf dem Weltmarkt zu skizzieren, mag es
hingehen. Den Deutschen wird es im Hinblick auf ihren Nationaldichter
der Moderne allerdings insofern leicht und nachweltkompatibel gemacht,
als Thomas Mann sich zur Nazizeit redlich und vorbildlich verhielt, ins
Exil ging, seinen Landsleuten mit einer jüdischen Über-Saga, dem "Josephs"-Roman,
literarisch die Leviten las und sich nach Kriegsende von niemandem vor
den politischen Karren spannen ließ, ja sogar in die Schweiz zog.
Solchen Gefallen hat Hamsun seinen Landsleuten nicht getan. Er verfaßte
lieber Bücher, die von Außenseitern und Randfiguren handelten, schrieb
über Sonderlinge und Verlierernaturen und fügte sich in eine unter einem
erweiterten Sozialismusbegriff subsumierbaren literarische Tradition ein
- wo er sie nicht gar für sein Heimatland begründete -, deren nationaler
Charakter erst im nachhinein und als es für ihn schon zu spät war,
genauer unter die Lupe genommen wurde.
Drei Schaffensalter hat Hamsun
biographisch interessant und literarisch produktiv hinter sich gebracht.
Das erste mit bahnbrechend avantgardistischen Romanen, das zweite mit
fast schon serieller Gebrauchsliteratur, das dritte in wohlwollender
Anschauung des zivilisatorischen Niedergangs eines Kontinents.
Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 als Knut Pedersen in Lom im
norwegischen Oppland geboren, benannte sich nach seinem Heimathof
Hamsund und schlug sich als Gelegenheitsarbeiter und interessierter
Beobachter nahezu auf der halben Welt herum, war Schuster in
norwegischen Provinzorten, Prokurist in Oslo, Ethnograph im Nahen Osten
und Straßenbahnschaffner in Amerika. Wieder in Norwegen, versucht er
zunächst, seine Amerika-Erfahrungen in einer Suada auf das "Geistesleben
des modernen Amerika" zu bewältigen, dann als Journalist und
Schriftsteller Fuß zu fassen. Erste Erfolge nach wenig beachteten und zu
Recht vergessenen Frühwerken kann er 1890 verzeichnen: In Dänemark,
seinerzeit die kulturelle Hegemonialmacht in Norwegen, erscheint -
zunächst in Auszügen - sein Romanerstling "Hunger" und wenig später der
Artikel "Vom unbewußten Seelenleben", letzterer mehr oder weniger eine
Handreichung zum Verständnis des Romans und in seiner Wirkung auf die
seinerzeit in Europa tonangebende skandinavische Literatur kaum zu
überschätzen, ebensowenig wie seine rabulistischen Blutgrätschen gegen
den amtierenden Dichterfürsten Ibsen.
In "Hunger" wie in der flankierenden Programmschrift geht es um die
Etablierung eines hemmungslos subjektiven Erzählers in literarischen
Texten - wir werden Zeugen der Delirien, Träume und Verspultheiten eines
nervlich schwer unter Druck stehenden Lohnschreibers und
Versuchsbohemiens. Mit einer solchen Offenlegung der autobiographischen
und literarisch vivisektionierten Windungen wird nicht nur Freud
vorweggenommen, sondern auch der Weg geebnet für
Selbstverständlichkeiten der Postmoderne wie der unzuverlässigen
Erzählinstanz - die Hamsun in seinem zweiten Roman "Mysterien"
praktischerweise gleich selbst vorexerziert. Held Nagel läuft da in
einem gelben Anzug durch die Gegend, den man in einem grobkörnigen
Schwarzweiß sieht, weil sein mysteriöser Geigenkasten uns im Vorgriff
schon an all die Gitarrenkästen der Mafiafilmzeit erinnert.
Hatte "Hunger" noch in Kristiania, dem heutigen Oslo, gespielt -
einem damals armseligen Nest (was die skandinavistische
Literaturwissenschaft nie daran gehindert hat, den Text als den ersten
"Großstadtroman" zu handeln) - ist "Mysterien" in der Provinz
angesiedelt. Von diesem Milieu wird sich Hamsun nicht wieder
verabschieden. "Pan", der dritte, eingängigste und dabei bestimmt nicht
schlechteste (Kurz-)Roman Hamsuns spätestens bildet so den Startpunkt
für einen Topos, an dem die Literatur aus Skandinavien bis auf den
heutigen Tag zu schleppen hat: diese Natur - immer und immer wieder! Und
in irgendeinem Holzhaus, umgeben von bedrohlicher Wildnis, dann
tendenzdepressive Gespräche in kleiner Runde über zwischenmenschliche
Unmöglichkeiten. All die Wallanders, Stieg-Larsson-Kommissare und
namenlosen Jon-Fosse-Bühnengestalten sind Epigonen des fühligen
Leutnants Glahn aus Pan und seiner Nachfolger aus der Schreibwerkstatt
des norwegischen Einsiedlers.
Zu diesem Zeitpunkt kann man Hamsun den Vergleich mit seinem späteren
Spezl Adolf Hitler nicht ersparen: Wie dieser - hätte es ihn im Sommer
1943 irgendwie dahingerafft - heute mit Sicherheit als Gröfaz in den
Geschichtsbüchern stünde, so könnte Hamsun heute als Säulenheiliger des
skandinavischen Modernismus glänzen, hätte er sich nach Pan in einer
Pariser Eckkneipe mit einer Überdosis Absinth ins literarische Walhalla
befördert. Aber er mußte ja weitermachen. Und er machte weiter mit einer
ganzen Handvoll nicht schlechter, letztlich jedoch mediokrer Romane,
deren erfolgreichster "Segen der Erde" von 1917 wird. Explizit für diese
Erzählung vom zivilisationsfernen Landleben, dem seither immer wieder
(wohl zu Unrecht) eine reaktionäre Grundhaltung vorgeworfen wurde,
erhält Hamsun 1920 den Nobelpreis - nicht für sein wagemutiges Frühwerk,
nicht für die Durchschnittserzähltexte dazwischen oder gar seine
dramatischen Arbeiten.
Auch in "Segen der Erde" ist eine autobiographische Grundierung der
Handlung nicht von der Hand zu weisen, ein Konzept, das sich vom Debüt
"Hunger" bis zum letzten regulären Roman "Der Ring schließt sich" durch
Hamsuns Œuvre zieht: 1917 hatte er sich in seiner Heimatprovinz Hamarøy
als Landwirt niedergelassen. Seinen Erfolgsroman, der die Freuden des
bedürfnislosen Landlebens und mehr Boden als Blut propagiert, schreibt
Hamsun aber, rastlos in Skandinavien herumziehend, in verschiedenen
Hotels - das Landstreichermotiv, das auch dem nachfolgenden Zyklus der
Herumtreiberromane bis zum im Wortsinne "geschlossenen Ring" von 1936
zugrunde liegt.
Hier endet Hamsuns fiktionale Produktion. Er war nach Nørholm im
Süden übergesiedelt und wurde zusehends mehr Gutsherr denn Ackermann,
ein Gutsherr - und ein erfolgreicher - mit einer standesgemäßen
Dichterhütte auf dem Anwesen. Seither und durch die gesamte
NS-Besatzungszeit hindurch dilettiert der mittlerweile würdig ergraute
einzige lebende norwegische Nobelpreisträger auf verschiedenen Gebieten:
ein bißchen Landwirtschaft hier, ein wenig journalistische Debatte dort,
hin und wieder eine diskrete Einmischung in die überschaubare
Kulturszene der Hauptstadt per Brief. Es ist fast schon ein Dilemma.
Nichts konnte Hamsun richtig: Zur Mannschen Bürgertümelei fehlte ihm die
Erziehung, zur Herumtreiberei der Fin-de-siècle-Boheme die Neigung, zu
einer akademischen Laufbahn gleich mehrere Dinge und zum genügsamen
Bestellen der heimatlichen Scholle wohl die Geduld. Dafür hatte sein
Wort mittlerweile einigermaßen Gewicht, das er vornehmlich dazu nutzte,
seinen Landsmännern die Leviten in moralischer und leider zunehmend auch
politischer Hinsicht zu lesen.
Nach der Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im April
1940 machte er sich in einigen Zeitungsartikeln explizit für eine
Position stark, die den Deutschen freie Hand ließ. Man kann diese
Position als Kollaboration bezeichnen, bloß daß Hamsun dabei auf dem
ziemlich zugigen Grat stand, auf dem man zur Rechten diejenigen
Landsmänner von sinnlosen Opferungen abhält, die sich dem überlegenen
Eroberer entgegenwerfen, zur Linken aber ruckzuck ein Vaterlandsverräter
wird - ein Makel, der mit dem Urteil des Verfahrens gegen Hamsun im Jahr
1947 amtlich wurde. Tatsächlich war Hamsun wohl kein gewöhnlicher
Kollaborateur, der sich von Deutschenliebesdienerei einen kleinen Bonus
erhoffte, sondern eher ein Faschist avant la lettre: Um Hitler und die
Seinen wirklich goutieren zu können, fehlte ihm die Radikalität (und die
Kenntnis der deutschen Sprache). Seine politische Disposition speiste
sich aus erzreaktionärem Standesbewußtsein als nordischer Monolith,
einem pathologischen Haß auf alles Angelsächsische, einem halbverdauten
Nietzscheanismus - irgendwo spukt ein leicht hinkender Übermensch unter
so gut wie jedem seiner Texte herum - und einem fast schon zelebrierten
Altersstarrsinn.
Der Mann war gerade 80 geworden, als der Zweite Weltkrieg ausbrach,
körperlich verschiedentlich gebrechlich, darüber hinaus "politisch" im
Wortsinne nicht interessiert, dafür aber dem Vernehmen nach
hypersensibel und schlicht überfordert mit all den Bittstellern und
Besserwissern, die seine Fürsprache unter den neuen politischen
Gegebenheiten erwarteten. Entsprechend disparat seine teils offiziell,
teils brieflich verbreiteten Stellungnahmen aus dieser Zeit: Grönland
müsse den Dänen entrissen und den Norwegern zugesprochen werden, bevor
es das stets in Anführungszeichen firmierende "Brudervolk" an die USA
verscherbelt; Carl von Ossietzky wird 1935 ein hämischer Zeitungsartikel
hinterhergeschickt, in dem es heißt, daß es Konzentrationslager ja wohl
kaum ohne Grund gäbe; einerseits wirft er seinen Namen für norwegische
Widerstandskämpfer in die Waagschale, andererseits verbittet er sich,
Kierkegaard von einem Juden kritisieren zu lassen.
All das hätten seine bewunderungsbereiten Landsleute einem
verdienstvollen Greis vielleicht noch durchgehen lassen, doch Hamsun
überspannt den Bogen schließlich: Nicht nur ruft er Norweger in
alliierten Verbänden offen zur Fahnenflucht auf, nicht nur trifft er
sich mit Spitzenfunktionären der Nazis in Berlin und (mit vielen
komödienhaften Mißverständnissen) Hitler auf dem Berghof, sondern er
vermacht seine Nobelpreismedaille allen Ernstes Joseph Goebbels. Der
Preis, heißt es im Begleitschreiben, sei ausgelobt worden für
herausragende Leistungen auf dem Feld der idealistischen Dichtung, und
er, Hamsun, kenne keinen, "der sich Jahr für Jahr so unermüdlich in Wort
und Schrift für die Sache Europas und der Menschheit eingesetzt" habe.
Goebbels ist ehrlich gerührt: Er liest in den beschwerlichen Kriegstagen
Hamsuns Romane vorm Einschlafen - "Hunger" liest er. Kein Witz
(Tagebucheintrag vom 7. Juni 1943).
In der letzten Ausgabe der Tageszeitung "Aftenposten", die unter der
Zensur der Nasjonal Samling, der norwegischen Faschisten unter Quisling
und Terboven, herausgegeben wurde, erschien schließlich am 7. Mai 1945
Hamsuns berüchtigt gewordener Nachruf auf Hitler, eine Woche post festum.
Der Verblichene wird dort gefeiert als "ein Krieger für die Menschheit
und ein Verkünder des Evangeliums vom Recht für alle Völker", eine
"reformatorische Gestalt höchsten Ranges". Diese Uneinsichtigkeit
überbietet der greise Dichter nur noch durch die Novelle "Auf
überwachsenen Pfaden": Es ist eine Chimäre aus Tagebuch und
literarischer Bewältigung der Zeit seines Landesverräterprozesses,
während der die neue Regierung in Norwegen den Fall Hamsun dadurch unter
den Teppich zu kehren bestrebt ist, den Angeklagten zunächst in ein
Altenheim einzuweisen und dann für geisteskrank erklären zu lassen,
schließlich zu verurteilen und zu enteignen.
Das Problem der angemessenen Denkmalspflege stellt sich den Norwegern
dieses Jahr nun erneut. Norwegische Kulturindustrie für Deutsche: Wie
gedenkt man jemandes, der bloß besser schreiben konnte als Ernst Jünger,
politisch den Nazis stärker anhing als Benn und retrospektiv so
selbstgerecht war wie Speer und Riefenstahl zusammen? Die Sponsorensuche
für die 150-Jahr-Feierlichkeiten jedenfalls verlief schleppend.
Frederik Moche schrieb in KONKRET 12/08 über den Umgang der Deutschen
mit dem Antisemitismusvorwurf